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Urteil Versicherungsgericht (SG)

Zusammenfassung des Urteils IV 2016/218: Versicherungsgericht

Der Beschwerdeführer A. beantragte eine Hilflosenentschädigung, die IV-Stelle lehnte ab. Nach mehreren Einsprüchen und Gerichtsverfahren wurde entschieden, dass die IV-Stelle erneut prüfen muss, ob eine Hilflosenentschädigung gerechtfertigt ist. Der Gesundheitszustand des Beschwerdeführers hat sich verschlechtert, insbesondere nach dem Auszug seines Sohnes. Die IV-Stelle muss nun den Anspruch auf Hilflosenentschädigung neu prüfen. Kosten und Parteientschädigung wurden festgelegt.

Urteilsdetails des Kantongerichts IV 2016/218

Kanton:SG
Fallnummer:IV 2016/218
Instanz:Versicherungsgericht
Abteilung:IV - Invalidenversicherung
Versicherungsgericht Entscheid IV 2016/218 vom 18.12.2017 (SG)
Datum:18.12.2017
Rechtskraft:-
Leitsatz/Stichwort:Entscheid Art. 42 IVG. Art. 29 ATSG. Art. 87 IVV. Hilflosenentschädigung. Neuanmeldung. Glaubhaftmachung. Die – ohnehin schon tiefen – Anforderungen an eine Glaubhaftmachung einer anspruchsrelevanten Sachverhaltsveränderung sind umso tiefer, je länger die letzte Gesuchsabweisung zurückliegt (Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 18. Dezember 2017, IV 2016/218).
Schlagwörter : IV-act; IV-Stelle; Hilflosenentschädigung; Sachverhalt; Entscheid; Begleitung; Gesundheitszustand; Verfügung; Isolation; Belastung; Kontakt; Hilfe; Sohnes; Kontakte; Beschwerdeführers; Abweisung; Gallen; Bericht; Bezug; Begehren; Anspruch; Versicherungsgericht; Wohnung; ürde
Rechtsnorm:Art. 29 ATSG ;
Referenz BGE:-
Kommentar:
-

Entscheid des Kantongerichts IV 2016/218

Entscheid vom 18. Dezember 2017

Besetzung

Präsident Ralph Jöhl, Versicherungsrichterinnen Monika Gehrer-Hug und Karin HuberStuderus; Gerichtsschreiber Tobias Bolt

Geschäftsnr.

IV 2016/218

Parteien

A. ,

Beschwerdeführer,

vertreten durch Rechtsanwalt lic. iur. Dieter Studer, Studer Anwälte AG, Hauptstrasse 11a, 8280 Kreuzlingen, gegen

IV-Stelle des Kantons St. Gallen, Postfach 368, 9016 St. Gallen,

Beschwerdegegnerin,

Gegenstand

Hilflosenentschädigung (Nichteintreten) Sachverhalt

A.

    1. A. bezog seit Jahren eine ganze Rente der Invalidenversicherung. Laut einem im Auftrag einer Krankentaggeldversicherung im April 1986 erstellten Gutachten der psychiatrischen Klinik Münsterlingen (IV-act. 12) und einem Bericht des Psychiaters Dr. med. B. vom 11. November 1996 (IV-act. 25) litt er an einer depressiv-neurotischen Entwicklung mit einer somatischen Begleitsymptomatik und einem chronischen Beeinträchtigungsgefühl auf der Basis einer schweren Persönlichkeits¬störung. Im Dezember 1998 berichtete Dr. B. über eine zunehmende Konsolidierung des Krankheitsbildes auf einem hochgradig pathologischen, neurasthenisch-sensi¬tiven Zustandsbild mit einer verminderten allgemeinen Belastbarkeit, einer Kränkbarkeit, einer körperlichen Sekundärmanifestation der psychischen Störung (mit einer Hospitalisation aufgrund einer cardialen Symptomatologie) im Sinne eines Ventilmechanismus, einer eigenlogischen, autistischen Selbstzentrierung mit einer pathologischen Fixierung auf eine Organogenese der Erkrankung, depressiv-suizidalen Exacerbationen und einer affektiv-emotionalen Dysbalance (IV-act. 64).

    2. Im Februar 2004 meldete sich der Versicherte zum Bezug einer Hilflosenentschädigung an (IV-act. 104 und 107). Er gab an, er sei für die Fortbewegung im Freien und für die Pflege von gesellschaftlichen Kontakten auf eine regelmässige Hilfe Dritter ange¬wiesen. Zudem benötige er eine lebenspraktische Begleitung in der Form von Hilfeleistungen, die das selbständige Wohnen ermöglichten. Er sei ein allein erziehender Vater eines zwölf Jahre alten Sohnes. Aus gesundheitlichen Gründen sei er seit geraumer Zeit mit der Haushaltsführung völlig überlastet. Im März 2004 berichtete Dr. med. C. (IV-act. 108), die Angaben des

      Versicherten stimmten mit den von ihm erhobenen Befunden überein. Dessen Gesundheitszustand sei stationär. Familienrechtliche Gerichtsverfahren hätten den Versicherten aufgerieben. Im Dezember 2003 sei der Sohn von der öffentlichen Schule verwiesen worden. Der Versicherte habe in der Folge die Lehrerfunktion übernommen, sei damit aber überfordert gewesen. Nun könne er den Sohn nicht in dieselbe Schule zurückschicken, da sich dieser weigere und da der Versicherte mit dem Schicksal des Sohnes die eigene traumatische Kindheit verbinde. Für eine private Lösung fehle das Geld. Der Versicherte erhoffe sich eine Entlastung durch die Invalidenversicherung in Bezug auf die Haushaltsführung. Angesichts seiner Persönlichkeitsstörung fehle ihm wohl die Entscheidungsfreiheit für andere Lösungen. Am 14. Mai 2004 wies der Versicherte die IV-Stelle darauf hin (IV-act. 113), dass der Arztbericht von Dr. C. stellenweise einen falschen Eindruck erwecken könnte. Die erwähnten juristischen Verfahren seien nicht von ihm, sondern von seiner geschiedener Ehefrau angestrebt worden. Sein Sohn sei in der Schule einem massiven Mobbing ausgesetzt gewesen. Er könne sehr wohl zwischen seinem Schicksal und jenem seines Sohnes differenzieren. Ende Mai 2004 teilte Dr. C. der IV-Stelle mit, dass seit März 2004 keine therapeutische Beziehung mehr zum Versicherten bestehe (IV-act. 114). Im Juli 2004 gab der Versicherte der IV-Stelle telefonisch an, dass er bislang noch niemanden habe, der ihn bei der Haushalts¬führung anleite, da ihm das Geld dafür fehle (IV-act. 120). Mit einer Verfügung vom 21. September 2004 wies die IV-Stelle das Begehren des Versicherten um eine Hilf¬losenentschädigung ab (IV-act. 127). Zur Begründung führte sie an, als alleinerziehender Vater wohne der Versicherte seit Jahren selbständig, wobei er den Alltag ohne konkrete Begleitmassnahmen bewältigen könne. Folglich bestehe kein Bedarf nach einer lebenspraktischen Begleitung.

    3. Eine gegen diese Verfügung erhobene Einsprache (IV-act. 130 und 133) wurde mit einem Entscheid vom 15. März 2005 abgewiesen (IV-act. 136). Zur Begründung führte die IV-Stelle an, der Versicherte benötige nicht eine als eine lebenspraktische Begleitung zu qualifizierende indirekte Hilfe bei der Haushaltsführung, sondern eine direkte, aktive Hilfe, die keinen Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung begründen könne. Dagegen erhob der Versicherte am 8. April 2005 eine Beschwerde (IV-act. 138). Er machte im Wesentlichen geltend (IV-act. 141), er benötige eine direkte und eine indirekte Hilfe bei der Haushaltsführung. Zudem habe seine Erkrankung zu einer sozialen Isolation geführt. Mit einem Entscheid vom 3. November 2005 (IV 2005/35; vgl.

      IV-act. 144) hob das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen den Einspracheentscheid vom 15. März 2005 auf; es wies die Sache zur weiteren Abklärung an die IV-Stelle zurück. Zur Begründung führte es aus, die IV-Stelle habe den anspruchsrelevanten Sachverhalt nicht umfassend abgeklärt, sondern sich mit der Einholung eines Berichtes beim behandelnden Arzt begnügt. Dieser Bericht habe nur eine Diagnose, aber keine Umschreibung der Auswirkungen der Gesundheitsschädigung auf die für einen allfälligen Hilflosenentschädigungsanspruch des Versicherten massgebenden Fähigkeiten enthalten und sei folglich ungenügend gewesen. In der Folge führte die IV-Stelle die Sachverhaltsabklärung fort. Im April 2006 berichtete Dr. med. D. (IV-act. 156), der Versicherte leide an ausgeprägten psychosomato-psychi-schen Störungen mit einer Herz-Kreislaufund Angstsymptomatik sowie an einer ausgeprägten vegetativen Dystonie. Es bestehe eine ausgeprägte Unsicherheit, ohne eine „Absicherung“ weiter von zuhause fort zu gehen unter Menschen zu sein. Mit einer lebenspraktischen Begleitung könnte eine Entlastung von unnötigen Belastungssituationen erzielt werden, womit längerfristig noch eine deutliche Stabilisierung, wenn nicht sogar eine Besserung des aktuellen Zustandes erreicht werde könnte. Der Versicherte benötige eine Motivation zu sozialen Kontakten. Am 23. August 2006 fand ein persönliches Gespräch zwischen dem Versicherten und einer Sachbearbeiterin der IV-Stelle statt. Die Sachbearbeiterin notierte (IV-act. 170-1 ff.),

      der Versicherte könne den Alltag grösstenteils selbständig bewältigen. Die Kontakte zu Behörden erledige allerdings der Anwalt, da der Versicherte sich immer wieder mit Vorurteilen seiner Person gegenüber konfrontiert gesehen habe. Auch Einkäufe erledige der Versicherte nicht gerne selbst, da er sich von den „gefrusteten“ Frauen jeweils beobachtet fühle. Die Coiffeurbesuche erledige er an einem bestimmten Ort, da er das Geschwätz der anderen Kunden nicht ertrage. Der Versicherte liess am 19. September 2006 darauf hinweisen (IV-act. 170-5 ff.), dass einige Angaben ungenau unvollständig seien. Mit einer Verfügung vom 15. November 2006 wies die IV-Stelle das Begehren um eine Hilflosenentschädigung ab (IV-act. 174). Zur Be¬gründung führte sie aus, die Notwendigkeit einer lebenspraktischen Begleitung im Umfang von mehr als zwei Stunden pro Woche über einen Zeitraum von drei Monaten sei nicht ausgewiesen. Die Gefahr einer Isolation bestehe nicht, da der Versicherte zusammen mit seinem minderjährigen Sohn in einer Wohnung lebe und für dessen Erziehung verantwortlich sei. Der Versicherte könne die Haushaltsarbeiten selbständig verrichten. Die direkte

      Hilfe von Drittpersonen bei den Besorgungen könne nicht als eine lebensprak¬tische Begleitung qualifiziert werden. Eine gegen diese Verfügung erhobene Beschwerde (IVact. 178) wurde vom Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen mit einem Entscheid vom 15. Juni 2007 (IV 2007/8; vgl. IV-act. 191) abgewiesen. Zur Begründung führte das Gericht an, der Versicherte sei nur hinsichtlich eines unbedeutenden Ausschnittes aus dem Alltag des selbständigen Wohnens auf eine lebenspraktische Begleitung angewiesen, was keinen Hilflosenentschädigungsanspruch begründen könne. Er sei auch nicht völlig ausserstande, ohne Begleitung ausserhäusliche Verrichtungen vorzunehmen ohne Begleitung ausserhäusliche Kontakte zu pflegen. Das sei zwar mit einer grossen Belastung verbunden, aber dem Beschwerdeführer könne diese Belastung zugemutet werden. Das gelte wohl sogar für Behördenkontakte, auch wenn hier die Belastung und die Frustration besonders hoch seien. Eine Gefahr einer sozialen Isolation liege nicht vor, denn der Versicherte habe sich ein kleines, aber ausreichendes soziales Netz knüpfen können, weshalb er sich selbst dann nicht sozial isolieren würde, wenn sein Sohn wieder bei der Mutter lebte. Die gegen diesen Entscheid erhobene Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten (IV-act. 194) wurde vom Bundesgericht mit einem Urteil vom 28. April 2008 (9C_543/2007; vgl. IV-act. 198) abgewiesen.

    4. Am 1. November 2015 meldete sich der Versicherte erneut zum Bezug einer Hilflosenentschädigung an (IV-act. 220). Er gab an, er sei auf eine regelmässige Hilfe Dritter beim Anund Auskleiden (seit seiner Berentung), beim Essen, bei der Fortbewegung und bei der Pflege gesellschaftlicher Kontakte angewiesen. Seit dem Jahr 2011 benötige er eine lebenspraktische Begleitung zur Ermöglichung des selbständigen Wohnens und für Erledigungen und Kontakte ausserhalb der Wohnung. Die Hilfeleistungen würden bislang von Privatpersonen erbracht. Am 11. November 2015 forderte die IV-Stelle den Versicherten auf, eine wesentliche Veränderung des anspruchsrelevanten Sachverhaltes glaubhaft zu machen (IV-act. 225). Dieser antwortete am 27. Januar 2016 (IV-act. 233), sein Sohn sei aus der gemeinsamen Wohnung ausgezogen, was zu einer Verschlechterung der Fähigkeit zur Alltagsbewältigung geführt habe. Ein Wohnungswechsel habe allerdings ideale Voraussetzungen für die Zukunft geschaffen. Der Gesundheitszustand habe sich seit der Abweisung des ersten Hilflosenentschädigungsbegehrens verschlechtert. Zwischen März 2008 und Januar 2015 habe sich der Versicherte sechzehnmal in einer

      sta¬tionären Behandlung befunden; einmal habe er sich (im Mai 2008) notfallmässig ins Spital begeben („Rettung“). Am 10. Februar 2016 liess der nun anwaltlich vertretene Versicherte geltend machen (IV-act. 237), nach dem Auszug des Sohnes fehle es ihm an einer Hilfe im Haushalt. Zudem seien die sozialen Kontakte dadurch stark zurückgegangen. Der Gesundheitszustand habe sich ebenfalls verschlechtert. Neu sei eine posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert worden. Die Angstund Hilflosigkeitszustände seien in den letzten Jahren häufiger und intensiver aufgetreten. Am 23. März 2016 liess der Versicherte ein Arztzeugnis seines Hausarztes einreichen und geltend machen (IV-act. 244), sein Gesundheitszustand habe sich in jeder Hinsicht verschlechtert. Der Sohn habe den Kontakt zum Versicherten abgebrochen. Dadurch habe sich die soziale Isolation verstärkt. Der Versicherte sei darauf angewiesen, dass ihn eine Drittperson beim Wahrnehmen sozialer Kontakte unterstütze. Der Hausarzt Dr. med. E. hatte am 16. März 2016 ausgeführt (IV-act. 245), er behandle den Versicherte seit dem Jahr 2012. Anhand der Vor¬akten und den Angaben des Versicherten gehe er davon aus, dass sich dessen psychischer Gesundheitszustand seit etwa dem Jahr 2008 merklich verschlimmert habe. Anlässlich einer stationären Behandlung in der Klinik F. im November 2009 sei eine komplexe posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert worden. Der Versicherte werde immer wieder von massiven Ängsten überfallen, die ihn zum Teil handlungsunfähig machten und die zu bedrohlichen somatischen Symptomen führten, die jeweils eine stationäre Behandlung erforderten. Die Situation des Versicherten werde durch eine völlige soziale Isolation verschlimmert.

    5. Am 13. April 2016 notierte Dr. med. G. vom IV-internen regionalen ärztlichen Dienst (RAD; IV-act. 248), der Bericht von Dr. E. belege keine wesentliche Veränderung des Gesundheitszustandes des Versicherten. Das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen habe in seinem Entscheid vom 15. Juni 2007 darauf hingewiesen, dass ein Auszug des Sohnes nicht zu einer sozialen Isolation führen würde. Der Versicherte neige offenbar verstärkt zu einer ängstlichen Selbstbeobachtung. Seine subjektiven Empfindungen seien aber nicht massgebend. Relevant sei vielmehr der objektive Befund, der im Wesentlichen unverändert geblieben sei. Die neue Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung belege ebenfalls keine wesentliche Veränderung des für die Hilflosigkeit massgebenden Gesundheitszustandes. Mit einem Vorbescheid vom 26. April 2016 teilte die IV-Stelle

dem Versicherten mit, dass sie nicht auf sein Gesuch eintreten werde, da er keine anspruchsrelevante Sachverhaltsveränderung glaubhaft gemacht habe (IV-act. 251). Dagegen liess dieser am 24. Mai 2016 einwenden (IV-act. 254), der behandelnde Hausarzt Dr. E. habe auf eine merkliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes hingewiesen. Zudem habe sich die soziale Situation mit dem Auszug des Sohnes komplett verändert. Mit einer Verfügung vom 2. Juni 2016 trat die IV-Stelle nicht auf das neue Leistungsbegehren vom 1. November 2015 ein (IV-act. 256).

B.

    1. Am 28. Juni 2016 liess der Versicherte (nachfolgend: der Beschwerdeführer) eine Beschwerde gegen die Verfügung vom 2. Juni 2016 erheben (act. G 1). Sein Rechtsvertreter beantragte die Zusprache einer Hilflosenentschädigung. Zur Begründung führte er aus, der Beschwerdeführer lebe völlig alleine und habe praktisch keine sozialen Kontakte. Im Rahmen der immer wieder auftretenden Angstzustände und Panikattacken benötige er eine Drittperson, die ihn betreuen könne. Ohne eine solche Dritthilfe müsse er aus Sicher¬heitsgründen ernsthaft einen Heimeintritt ins Auge fassen. Im Rahmen der Angstzustände sei er wie gelähmt, weshalb auch geprüft werden müsse, ob eine Hilflosigkeit im Sinne des Art. 37 IVV vorliege. Der Hausarzt Dr. E. habe eine merkliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes etwa im Jahr 2008 bestätigt.

    2. Die IV-Stelle (nachfolgend: die Beschwerdegegnerin) beantragte am 26. September 2016 die Abweisung der Beschwerde (act. G 4). Zur Begründung führte sie an, die aktuell eingereichten Akten belegten nach wie vor keine vollständige Isolation. Eine Verwahr¬losung sei ebenfalls nicht ausgewiesen. Aus den medizinischen Berichten ergebe sich eine weitgehend unveränderte Fähigkeit, den Alltag selbständig zu bewältigen. Die RAD-Ärztin Dr. G. habe dies am 1. September 2016 nach einer eingehenden Würdigung der vom Beschwerdeführer eingereichten medizinischen Berichte nochmals bestätigt (vgl. IV-act. 267). Eine wesentliche Veränderung des anspruchsrelevanten Sachverhaltes sei folglich nicht glaubhaft gemacht worden.

    3. Der Beschwerdeführer liess am 2. November 2016 an seinen Anträgen festhalten

(act. G 7).

Erwägungen

1.

Der Beschwerdeführer hat die Zusprache einer Hilflosenentschädigung beantragt. Mit der angefochtenen Verfügung vom 2. Juni 2016 war die Beschwerdegegnerin aber gar nicht erst auf sein entsprechendes Begehren eingetreten, das heisst sie hatte sich nicht mate¬riell mit einem allfälligen Anspruch des Beschwerdeführers auf eine Hilflosenentschädigung befasst. Würde das Versicherungsgericht nun - dem Wortlaut des Antrages des Beschwerdeführers folgend materiell prüfen, ob dieser einen Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung hat, würde es den Gegenstand dieses Beschwerdeverfahrens weit über jenen der angefochtenen Verfügung vom 2. Juni 2016 hinaus ausdehnen, was unzulässig wäre, denn dieses Beschwerdeverfahren kann nur die Prüfung der Rechtmässigkeit der angefochtenen Nichteintretensverfügung zum Gegenstand haben. Würde nur auf dessen Wortlaut abgestellt werden, könnte folglich auf den Antrag des Beschwerdeführers nicht eingetreten werden. Eine sorgfältige Interpretation umfasst allerdings mehr als nur eine Auslegung des Wortlautes. Sie muss die gesamte Beschwerde berücksichtigen. Weil aus der Beschwerdebegründung eindeutig hervor geht, dass der Beschwerdeführer nicht nur die Zusprache einer Hilflosenentschädigung, sondern auch das Eintreten auf sein entsprechendes Begehren hat beantragen wollen, muss der eigentliche Beschwerde¬antrag über dessen Wortlaut hinaus auch den Antrag enthalten haben, die Beschwerdegegnerin sei zu verpflichten, auf die Neuanmeldung vom 1. November 2015 einzutreten. Dieser Antrag deckt sich mit dem Gegenstand der angefochtenen Verfügung vom 2. Juni 2016, weshalb darauf eingetreten werden kann. Das vorliegende Beschwerdeverfahren beschränkt sich somit auf die Beantwortung der Frage, ob der Nichteintretensentscheid vom 2. Juni 2016 rechtmässig gewesen ist.

2.

    1. Laut dem Art. 87 Abs. 3 IVV wird eine neue Anmeldung zum Bezug einer Hilflosenentschädigung nach der Abweisung eines früheren Begehrens wegen einer fehlenden Hilflosigkeit nur geprüft, wenn die versicherte Person glaubhaft gemacht hat, dass sich ihre Hilflosigkeit seither in einer für den Anspruch erheblichen Weise

      geändert hat. Diese Eintretenshürde in Bezug auf Neuanmeldungen schränkt das im Art. 29 ATSG (der nicht zwischen erstmaligen Anmeldungen und Neuanmeldungen unterscheidet) verankerte jederzeitige Anmelderecht ein, das einen Anspruch auf eine materielle Prüfung einer jeden Anmeldung vermittelt. Die ratio legis des Art. 87 Abs. 2 und 3 IVV besteht darin, die IV-Stellen vor jenem Aufwand zu schützen, mit dem sie konfrontiert wären, wenn Versicherte immer wieder Anmeldungen zum Leistungsbezug einreichen könnten, die von den IV-Stellen jedes Mal umfassend materiell geprüft werden müssten. Ein solcher, rein verfahrensökonomisch begründeter Schutzbedarf besteht in Bezug auf die im Art. 87 IVV namentlich erwähnten Leistungen - Rente, Hilflosenentschädigung und Assistenzbeitrag -, da die Sachverhaltsabklärung diesbezüglich oft äusserst aufwendig ist. Auch wenn sich der Art. 87 IVV nicht auf eine explizite gesetzliche Grundlage stützen kann, die eine Einschränkung des im Art. 29 ATSG verankerten jederzeitigen Anmelderechtes erlauben würde, trägt er doch offenkundig einem wesentlichen praktischen Interesse Rechnung, ohne dafür die gesetzliche Regelung im Art. 29 ATSG in einem unverhältnismässig hohen Mass einzuschränken. Also ist er vom Vollzugsverordnungsauftrag im Art. 86 Abs. 2 Satz 1 IVG abgedeckt. Die Anwendung des Art. 87 Abs. 2 und 3 IVV führt auch nicht zu einer rechtsungleichen Behandlung der Versicherten, denn die Eintretenshürde für Neuanmeldungen stützt sich auf einen sachlichen Grund, nämlich auf die Vermeidung eines unnötigen Verfahrensaufwandes (Verfahrensökonomie). Aus diesen Gründen kann der Art. 87 Abs. 2 und 3 IVV trotz der fehlenden expliziten gesetzlichen Grundlage als gesetzmässig qualifiziert werden (vgl. dazu auch den Entscheid IV 2016/193 des St. Galler Versicherungsgerichtes vom 14. Dezember 2017). Je länger eine Abweisung eines früheren Leistungsbegehrens zurückliegt, umso mehr muss das Interesse am Schutz der IV-Stelle vor einer aufwendigen Sachverhaltsabklärung bei einem wiederholten Leistungsbegehren hinter das Interesse der versicherten Person an einer umfassenden materiellen Beurteilung ihres Leistungsbegehrens zurücktreten. In Fällen, in denen die letzte Abweisung schon viele Jahre zurückliegt, kann der durch den Art. 29 ATSG an sich gewährleistete Anspruch auf eine materielle Prüfung eines Begehrens nicht wie etwa bei einer lediglich einige Wochen Monate zurückliegenden Abweisung ohne Weiteres als eine unverhältnismässige Belastung der IV-Stelle qualifiziert werden. Folglich müssen in einem solchen Fall für die Erreichung des generell schon niederschwelligen Beweisgrades der Glaub¬haftmachung einer

      relevanten Sachverhaltsveränderung bereits wenige, geringe Anhaltspunkte für eine solche Veränderung in den Jahren seit der letzten Gesuchsab¬weisung ausreichen.

    2. Vorliegend vermag der Beschwerdeführer zwar aus der zwischen der Abweisung des ersten Begehrens um eine Hilflosenentschädigung und der zweiten Anmeldung zum Bezug einer Hilflosenentschädigung neu gestellten Diagnose einer komplexen posttraumatischen Belastungsstörung nichts zu seinen Gunsten abzuleiten, denn die RAD-Ärztin Dr. G. hat überzeugend dargelegt, dass es sich dabei lediglich um eine anderslautende Beurteilung der schon seit Jahrzehnten bestehenden grundlegenden psychischen Erkrankung des Beschwerdeführers handelt. Der Hausarzt Dr. E. hat aber darauf hingewiesen, dass der Gesundheitszustand des Beschwerdeführers seit dem Behandlungsbeginn im Jahr 2012 schlechter als jener sei, der in den vor dem Jahr 2008 erstellten Vorakten beschrieben werde. Damit dürfte sich Dr. E. auch auf den klinischen Befund bezogen haben, obwohl er im selben Zuge auf die im Jahr 2009 neu gestellte Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung hingewiesen hat. Angesichts der von Dr. E. und vom Beschwerdeführer selbst geschilderten Angaben erscheint eine erhebliche Verschlechterung der objektiven Fähigkeit des Beschwerdeführers zur selbständigen Bewältigung seines Alltages zwar als nicht allzu wahrscheinlich, woran auch die mit der Beschwerde eingereichten medizinischen Berichte nichts ändern, aber für die Eintretensprüfung muss eine relevante Sachverhaltsveränderung nicht wahrscheinlich, sondern nur glaubhaft gemacht sein. Diese tiefe Beweisanforderung ist vorliegend bereits mit dem Bericht von Dr. E. vom

16. März 2016 erfüllt gewesen, zumal die Abweisung des ersten Leistungsbegehrens damals schon beinahe zehn Jahre zurückgelegen hat; die entsprechende Verfügung hat nämlich vom 15. November 2006 datiert. Hinzu kommt, dass sich die soziale Situation des Beschwerdeführers mit dem Auszug des Sohnes aus der gemeinsamen Wohnung wesentlich geändert hat. Das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen hat zwar in seinem Entscheid IV 2007/8 vom 15. Juni 2007 tatsächlich darauf hingewiesen, dass auch ein allfälliger Auszug des Sohnes nichts Wesentliches an der sozialen Integration des Beschwerdeführers ändern dürfte. Dabei hat es sich aber nur um eine Prognose mit Blick auf die angesichts der damaligen Verhältnisse zu beantwortenden Frage gehandelt, ob eine soziale Isolation drohe. Diese Prognose kann nicht so verstanden respektive ausgedehnt werden, dass nie eine anspruchsbegründende Gefahr einer sozialen Isolation werde eintreten können.

Nachdem der Sohn nun tatsächlich ausgezogen ist und der Beschwerdeführer geltend gemacht hat, dieser Auszug habe zu einer erheblichen Verstärkung der sozialen Isolation geführt (was auch Dr. E. bestätigt hat), wäre es an der Beschwerdegegnerin gewesen zu prüfen, ob die damalige Prognose des Versicherungsgerichtes des Kantons St. Gallen eingetroffen ist. Jedenfalls besteht die Möglichkeit, dass sich der anspruchsrelevante Sachverhalt mit dem Auszug des Sohnes aus der gemeinsamen Wohnung verändert haben könnte, womit eine weitere wesentliche Veränderung des anspruchsrelevanten Sachverhaltes glaubhaft gemacht ist.

3.

    1. Zusammenfassend hätte die Beschwerdegegnerin also auf das neue Leistungsbegehren eintreten müssen, weshalb sich die angefochtene Nichteintretensverfügung vom 2. Juni 2016 als rechtswidrig erweist. Sie ist aufzuheben und durch den verfahrensleitenden Entscheid zu ersetzen, dass das neue Leistungsbegehren vom 1. November 2015 betreffend einen Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung materiell umfassend zu prüfen ist. Dafür dürfte wohl nebst einer medizinischen Sachverhaltsabklärung auch ein sämt¬liche Aspekte einer allfälligen Hilflosigkeit abdeckender Augenschein in der Wohnung des Beschwerdeführers notwendig sein.

    2. Die Gerichtskosten von 600 Franken sind der unterliegenden Beschwerdegegnerin aufzuerlegen. Dem Beschwerdeführer wird der von ihm geleistete Kostenvorschuss von 600 Franken zurückerstattet. Die Beschwerdegegnerin hat dem Beschwerdeführer eine Parteientschädigung auszurichten. Der erforderliche Vertretungsaufwand ist angesichts der Beschränkung des Verfahrens auf die Eintretensfrage und des damit verbundenen geringen Umfangs der relevanten Akten als unterdurchschnittlich zu qualifizieren. Die Parteientschädigung ist deshalb auf 2'500 Franken (einschliesslich Barauslagen und Mehrwertsteuer) festzusetzen.

Entscheid

im Zirkulationsverfahren gemäss Art. 39 VRP

1.

Die Beschwerde wird, soweit auf sie eingetreten werden kann, gutgeheissen; die angefochtene Nichteintretensverfügung vom 2. Juni 2016 wird aufgehoben und durch den verfahrensleitenden Entscheid ersetzt, auf die Neuanmeldung für eine Hilflosenentschädigung vom 1. November 2015 einzutreten; dementsprechend wird die Sache zur materiellen Prüfung der Neuanmeldung an die Beschwerdegegnerin zurückgewiesen.

2.

Die Beschwerdegegnerin hat die Gerichtskosten von Fr. 600.-zu bezahlen; dem Beschwerdeführer wird der von ihm geleistete Kostenvorschuss von Fr. 600.-zurückerstattet.

3.

Die Beschwerdegegnerin hat den Beschwerdeführer mit Fr. 2'500.-zu entschädigen.

Bitte beachten Sie, dass keinen Anspruch auf Aktualität/Richtigkeit/Formatierung und/oder Vollständigkeit besteht und somit jegliche Gewährleistung entfällt. Die Original-Entscheide können Sie unter dem jeweiligen Gericht bestellen oder entnehmen.

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